Samuel B. - 6. Apr, 18:09

Auf Wunsch von Madove - und weil ich gerade Zeit hatte:

Als ich mein Coming-out über die Bühne gebracht hatte und nun alle mir relevanten Menschen wussten, dass ich schwul bin, wurde ich häufig mit der Frage konfrontiert: „Warum bist Du schwul geworden?“ Anfänglich habe ich die verschiedenen wissenschaftlichen Theorien referiert, die Geschichte der Homosexualität von Anbeginn der Zeit dargestellt. Etwas später bin ich dazu übergegangen zu fragen: „Warum bist Du eigentlich heterosexuell geworden?“
Genauso wenig wie jeder hier beantworten kann, warum er heterosexuell ist, genauso wenig kann ich beantworten, warum ich überwiegend schwul bin. Nach wie vor gibt es keine wissenschaftliche Erklärung dazu und ich wehre mich in der Zwischenzeit auch gegen das „geworden“. Ich bin es – zum Teil. Wenn man Kinsey glauben darf, dann gibt es nur wenige, die rein homo- oder rein heterosexuell sind, zwischen Weiß und Schwarz gibt es viele Grautöne.

Mein ‚sexueller Werdegang’ kann nur auf dem Hintergrund meiner streng katholischen, kon-ervativen Herkunftsfamilie gesehen werden: Sex gibt es erst nach der Ehe, Selbstbefriedigung ist Sünde und Homosexualität hat der Teufel erfunden. Fazit: Ich wichste mit schlechtem Gewissen und genoss dennoch jeden einzelnen Orgasmus. Als dann die Klassenkameraden begannen, sich für das andere Geschlecht zu interessieren, hätte mir schon auffallen können, dass ich ‚anders’ bin, denn was an den Mädchen so interessant sein sollte, war mir nicht erklärlich. Pascal, Markus und Clemens gefielen mir irgendwie besser – aber dass da auch zwischen Jungs etwas laufen könne, fehlte komplett in der eigenen Vorstellungswelt, und um noch nicht mehr als Klassenclown und Halbaußenseiter dazustehen, begann ich mich eben auch für Mädchen zu ‚interessieren’. Immerhin fand sich eins, dass mich attraktiv fand, mir den Hof machte, mich eroberte und schließlich mich ‚verführte’. Vermutlich ihr schlechtester Sex, denn ich vollzog den Akt eher mechanisch und war nur meinem Orgasmus verpflichtet, nicht ihrem. Es kam, wegen anderer Dinge, zur Trennung, ich machte Abitur, machte an-schließend Zivildienst in einer anderen Stadt. Dort lernte ich P. kennen und verliebte mich Hals über Kopf – was ich aber gar nicht realisierte, weil es absolut nicht denk-bar, nicht fühl-bar war. Erst im Nachhinein kann ich meine totale Verliebtheit sehen. Etwa zur gleichen Zeit lernte ich auch M. kennen, offen schwul lebend, zu dem ich mich ebenfalls, wenn auch sehr unterschwellig, körperlich-sexuell hingezogen fühlte. Mit ihm hatte ich in Tübingen dann meinen ersten schwulen Sex, der sich einfach so ergab. Es war zwar befreiend und befriedigend. Dennoch, obwohl ich mit ihm um die zwei Jahre Sex hatte, versuchte ich ihm ausführlich nachzuweisen, dass ich nicht schwul bin, dass es nur ein besonderer Ausdruck von Freundschaft sei.
Schließlich zog ich in die nächste Stadt zum Studieren. Lange Zeit hatte ich da nur Sex mit mir und schleichend schlich sich in die Wichsphantasien, die bis dato immer ausschließlich Frauen im Zentrum hatten, der Freund von ihr ein – bis eines Nachts, den Ständer in der Hand, ich die Frau aus der Phantasie von der Bettkante schubste und mit ihm rum machte. Das war der Moment, nach einem übermäßig heftigen Orgasmus, das Sperma noch auf Gesicht, Brust und Bauch, in dem ich nicht nur erkannte sondern es auch für mich akzeptierte: Du bist schwul! Eine befreiende wie beängstigende Erkenntnis – aber sie war wahr und echt, zudem erklärte sie plötzlich so vieles.

Die Erkenntnis, meine ‚Neu-Definition’ behielt ich erstmal nur für mich, äugte in der Mensa nach dem schwulen Stammtisch und fragte mich, ob ich auch so tuckig werden würde, werden wolle – und das waren Tucken. Zwischenzeitlich war aber K. in mein Leben getreten, ein gepflegter, höflicher, adretter großer Mitstudent, der mich überzeugte, zu ihm in die 4er-WG zu ziehen. An einem Sylvester, wir waren alleine, kochten wir, schauten von einem Rastplatz das Feuerwerk an, er umarmte mich, wir fuhren nach Hause, er bat mich, mich zu ihm zu legen und plötzlich hatten wir Sex. Wir zogen bald zusammen in eine eigene Wohnung und unser Beziehung würde man heute auf Facebook mit „Es ist kompliziert“ angeben. Der Geheimnistuerei wurde ich leid, und in einer konzertierten Aktion brachte ich mein Coming-Out über die Bühne (was mich aber nicht dran hinderte, als ich es einer Freundin erzählte, anschließend mit ihr zu schlafen). Nun war ich also offiziell schwul, ging in schwule Kneipen, auf schwule Feten, hielt nicht damit hinter dem Berg. Die Beziehung zerbrach irgendwann, ich zog in eine eigene Wohnung und hatte dann wohl die aktivste sexuelle Phase in meinem Leben. Was nicht schnell genug aus der Wohnung war, lag neben, unter oder auf mir in meinem Bett – egal ob Mann oder Frau. Dass ich ‚offiziell’ schwul war, störte die Frauen nicht, vielleicht war es für sie ein besonderer Reiz sogar, einen schwulen Mann ‚umdrehen’ zu können – ich weiß es nicht.

Schließlich lernte ich meinen jetzigen Mann kennen, der damals in festen Händen war. Ich landete mal mit dem einem oder mit dem anderen im Bett, hin und wieder auch zu dritt. Und ohne jeden Streit, ohne jede Auseinandersetzung, ohne Krach und Ärger verschoben sich das Beziehungsgeflecht über den Zeitraum von knapp zwei Jahren, sein Freund hatte schließlich auch noch einen anderen Liebhaber, derart, dass es nun zwei Paare sind, die nach wie vor in Freundschaft verbunden sind.

Seitdem lebe ich in einer schwulen Beziehung, die es erlaubt, auch mit anderen mal was zu haben, Voraussetzung: Es muss ‚gebeichtet’ werden, der andere darf nicht in Unkenntnis ge-lassen werden. Dass, um den anderen die Möglichkeit zu geben einzuschätzen, ob da nur die Lust auf einen anderen Körper, eine andere Sexualpraktik vorliegt, oder ob es beziehungsgefährdend ist.

Über die Jahre schlich sich beim Wichsen die von der Bettkante gestoßene ‚Freundin’ wieder in meine Phantasien. Da traf es sich gut, dass ein aufgeschlossenes, befreundetes heterosexuelles Paar mich manchmal zu ihnen ins Bett lies.

Und schließlich lebte vor ein paar Jahren eine Kindheitsfreundschaft mit einer Frau wieder auf. Wir begannen zu chatten, wir besuchten uns. Berührte sie mich zufällig, bekam ich augenblicklich eine Erektion. Das war anfänglich nicht nur einfach schön und überraschend, sondern stellte mich vor die Frage: Was passiert da? Von ihr ging und geht eine sexuelle Attraktion aus, die mich in ihrer Heftigkeit und Intensität überraschte und die anhält. Es hat, aus unterschiedlichen Gründen, gedauert, obwohl sie Single ist und von der Offenheit meiner Beziehung weiß, bis wir Sex hatten und je nach ihrem Beziehungsstatus noch haben. Nach ein paar Jahren Abstinenz mit einer Frau wieder im Bett zu liegen war und ist so ‚normal’, wie mit einem Mann Sex zu haben.

Bin ich also wieder zurück auf dem Weg zur Heterosexualität? Vielleicht ein Stückchen, wenn man mit den klassischen Begriffen arbeitet, aber ankommen werde ich da wohl nie, will es auch gar nicht. Sollte man mich heute fragen, welche sexuelle Ausrichtung ich habe, würde ich bisexuell sagen, mit einer deutlichen Tendenz zu Männern. Und in gewisser Weise ist meine Sexualität dann doch ‚geworden’, als dass ich an verschiedenen Punkten, gewollt oder ungewollt, mir (sexuelle) Bedürfnisse ‚eingestanden’ habe – und das ‚Schicksal’ es mir z. T. ermöglicht hat, es auch leben zu können.

madove - 6. Apr, 23:05

Vielen Dank! Das find ich total interessant, so eine Entwicklung mal im Detail erzählt zu kriegen!!
Das Beziehungskonzept find ich ziemlich gelungen, soweit ich das von außen beurteilen kann...

Was mich interessieren würde, als Frage an Dich aund auch an Tonja, die ihr irgendwie bi unterwegs seid:
Würdest Du eher sagen, Sex mit Männern und Sex mit Frauen, das sind zwei verschiedene Sachen, die Du halt zufällig beide gerne magst, oder eher: Du magst halt Sex mit Menschen, und arrangierst dich dann mit den jeweiligen körperlichen Gegebenheiten. Hm. Ich weiß nicht, ob die Frage überhaupt Sinn macht, aber.
Samuel (Gast) - 8. Apr, 20:48

Sex ist für mich in erster Linie erstmal ein Ausdruck von Zuneigung / Liebe. Liebesbeziehungen und gute Freundschaften unterscheiden sich meiner Meinung nach nur dadurch, dass man mit zweiteren (üblicherweise) nicht ins Bett geht. Wenn ich einen Menschen mag und Lust auf ihn habe - und der Mensch auch: why not.
Natürlich gibt es Unterschiede beim Sex mit Mann oder Frau. Zwar weit nicht so groß, wie man gemeinhin denken mag, was das Doing betrifft, da stimmen aus dem Bauch heraus 70 Prozent überein. Doch die Feinheiten machen es dann schon aus. Hinzu kommt die Ästhetik.
Ich habe in einem anderen Zusammenhang darüber nachgedacht und es versucht zu formulieren, aber das ist weit aus komplizierter zu erklären, als ich dachte. Sagen wir so: Beides hat Vorteile und Nachteile.


Tonja würde mich auch interessieren, sehr sogar.
madove - 9. Apr, 19:14

Dein (vor)letzter Abschnitt macht mich neugierig... aber ich habe glaube ich mein Monatspensum an Essays schon von Dir eingefordert? ;-)
schafdeluxe - 12. Apr, 00:03

ich denke immer noch (darüber nach)

Sex ist grundsätzlich immer Sex, deshalb hat er ja auch diesen Namen und heißt nicht mal Homosex und mal Heterosex. Natürlich gibt es Unterschiede, aber diese gibt ja auch zwischen dem einen und dem nächsten männlichen Sexualpartner - niemand ist gleich, fasst sich gleich an, nie ist die Energie zwischen Menschen genau die SELBE wie mit jemand anderem. Ja, manchen Praktikten finden sich häufiger bei Sex mit Männern (Penetration mit Schwänzen zb) als jetzt gerade bei meiner Freundin ^^ - aber das hat wiederrum auch ganz viel mit meiner Freundin zu tun. Meine Ex mochte beispielsweise (großes) Spielzeug sehr gern, also wars da anders. Der gröbste Unterschied ist wohl, dass mir bei den Männern immer die Brüste zum Greifen, Lecken, etc fehlen.. hatte noch nie einen Mann, der sich für seine Nippel begeistern konnte (leider),
Kurz: Es dreht sich letztlich wohl um die Person.

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"Ma dove?" ist italienisch und heißt "Aber wo?".
Der "Name" ist eigentlich zufällig an mir hängenge-blieben, paßt aber bestechend:
Ich suche.
Den Sinn des Lebens, meinen Platz in der Welt, meinen eigenen Stil, und eigentlich ständig meinen Schlüsselbund. Bislang mit mäßigem Erfolg, aber unverdrossen.
Um herauszufinden, was ich denke, lese ich gerne hier nach. Dafür muß ich es aber erst schreiben.
Daher das blog.


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