Absurdes Theater - Erster Akt

Wir stehen früh auf und fahren mit A. zum Bestattungsunternehmer, in dem kleinen Dorf, in dem V. aufgewachsen ist.
Eine halbe Sekunde naiv-fröhliches Herzklopfen, als A. sagt: " V. kommt gleich!".
Dann versteh ich: Im Leichenwagen.
Wir folgen dem Leichenwagen anderthalb Stunden über winzige Landstraßen, bis zur nächsten größeren Stadt. Der dortige Friedhof verbirgt sich hinter einem widerlichen pompösen dunkelgrauen Mussoliniarchitektur-Beton-Eingangsbogen. So hätt ich mir die Tore zur Hölle vorgestellt.
Aber wir folgen dem Wagen weiter, seitlich an dem Tor vorbei, durch eine Schranke, zu einem seltsamen, modernen, fabrikartigen Bau. Er bedeutet uns zu parken und fährt weiter, hinter das Krematorium.
Wir steigen aus und stehen verlegen herum. Es ist grau, kalt und sehr windig. Nach kurzer Zeit kommt der Wagen wieder, mit offenen Vorhängen und leer. Der Bestatter sagt uns, wir sollten kurz warten, bis wir dran sind. Er fährt weg.
Nach einer kurzen Weile ist uns sehr kalt.
A. fragt im Büro? an der Rezeption? drinnen, ob wir drinnen warten können.
Man führt uns in einen Raum: Leer, weiß, quadratisch, beide Fenster und die Tür stehen offen; es ist exakt genauso kalt und zugig wie draußen. An einer Wand ein ausgeschalteter Flachbildschirm, an der anderen Wand sieben Konferenzsaalstühle drei verschiedener Hersteller.
Wir setzen uns.
A. beginnt, die verschiedenen Kondolenz-SMS auf ihrem Handy noch einmal zu lesen. Sie liest sie leise vor (wem?) und beginnt zu weinen. Ich lege meine Hand auf ihren Arm und nehme sie nach einer Weile wieder weg.
Eine riesige Kohlschnake mit fünf Beinen verendet langsam auf dem Boden.
Nach einer Dreiviertelstunde kommt ein dicker verschwitzter Mann im Blaumann mit (asche-?!)verstaubten Armen rein und grunzt, es dauere noch länger; der Typ vorher sei ein bißchen dicker und brauche noch.
Wir warten.
Gelegentlich erschlägt einer von uns eine der zahlreichen Stechmücken.
Nach einer weiteren halben Stunde kommt der Mann wieder und schaltet kommentarlos den Bildschirm ein. Man sieht einen Sarg vor einer Klappe stehen.
V.'s leibliche Kinder stehen auf und gehen raus. A. beginnt wieder zu weinen. Ich lege Ihr wieder die Hand auf den Arm und starre auf den Sarg und versuche zu verstehen, daß V. da drin ist.
Mein Mann fragt mich, was ich machen will. Ich verstehe die Frage nicht. Na, ob ich drinbleiben will? Ich weiß es nicht. Dann fragt er A., und sie will alleine sein.
Ich gehe erleichtert mit ihm raus.
Nach etwa einer Minute kommt A. nach.
Er nimmt sie ein bißchen in den Arm.
Dann fahren wir weg.
Ich habe nichts verstanden.
rebhuhn - 16. Okt, 13:29

das tut mir leid, es liest sich, als wäre es unnötig unglücklich gelaufen. ich war hier in D schonmal bei einem tag der offenen tür im krematorium [darmstadt] und da ist der ganze ablauf liebevoller, auch das institut selbst war sehr offen, hell und freundlich. und warm!

fühl' dich [etwas spät, aber..] gedrückt!

madove - 16. Okt, 20:33

Ich war wirklich froh, daß es kein mir allzu nahestehender Trauerfall war. Auch wenn ich V. wirklich gern mochte.
Muriel (Gast) - 13. Jan, 15:45

Bei meinem Vater war das ja auch ...
Nee, eigentlich nicht ganz. Aber eigenartig ist es halt immer.
Da war halt nur die Familie bei uns auf dem Hof, und wir haben uns eine Weile über ihn unterhalten (was überraschend gut ging), sind dann kurz rausgegangen zum Grab, standen da eine Weile rum (was auch okay war, obwohl mir im nachhinein Leid tut, dass ich nichts gesagt habe, obwohl ich andererseits auch nicht wüsste, warum, weil eigentlich niemand da war, zu dem ich sinnvollerweise was dazu hätte sagen können, außer meiner Mutter, und bei der bin ich mir auch nicht so sicher. Immerhin hab ich mit ihr vor- und nachher immer mal wieder über ihn gesprochen und habe das Gefühl, das wir einander verstehen. Am meisten tut es mir wohl wegen meines Neffen leid, der auch da war und seinen Großvater sehr mochte, zu dem ich zu der Zeit aber keinen Draht hatte. Er machte andererseits nicht den Eindruck, als würde ihm irgendwas fehlen, deswegen vielleicht auch egal.)
Eigenartiger wars bei meinem Großvater. Da war nämlich kirchlich. Und ich kann mir nicht helfen, aber ich verstehe nicht, warum es nicht regelmäßig vorkommt, das die die Ansprache haltenden Geistlichen von aufgebrachten Angehörigen verprügelt werden. Es hat mich ja bei den drei von mir mit erlebten Hochzeiten immer schon moderat verärgert, was die erzählen, aber zu Beerdigungen finde ich es echt richtig unanständig.
Na gut. Mein Vater mochte seinen Vater nicht besonders und wollte dem Rest der Familie wohl eine Szene ersparen. Sonst wäre vielleicht noch eine amüsante Anekdote rausgekommen.
Aber mal im Ernst, ich begreife nicht, was Leute dazu treibt, jemanden zu solchen Anlässen sprechen zu lassen, der die verstorbene Person gar nicht kannte und inhaltlich im Wesentlichen beiträgt: "Ist zwar schade, dass er tot ist, aber doch schon gut, wir könnens nur nicht verstehen, und übrigens ist er in Wahrheit gar nicht tot, so wie wir alle übrigens niemals sterben müssen, sondern für immer am Leben bleiben, nur besser als jetzt."
Okay. Ich glaube, jetzt ist mir doch gerade klar geworden, wieso sich das durchgesetzt hat.

madove - 13. Jan, 16:34

Danke für diesen Kommentar.

Und generell habe ich das mit den krichlichen (<- den lasse ich auch für Dich stehen. Ich mag ihn.) Sprechern auch nicht so ganz verstanden. Also den Reiz der Botschaft verstehe ich ja sogar bis zu einem gewissen Grad.
Aber warum man dann zulässt, daß dabei so völlig unpassender Bullshit über den Verstorbenen gesagt wird. Ich sehe das Probelm, daß in den meisten Fällen das Gemeindeleben heute nicht mehr so funktioniert, daß der örtliche Pfarrer tatsächlich viel über die Person weiß, aber dann kann man das doch vorher kurz abklären? Ich fand das immer sehr peinlich, wenn man dann explizit irgendwelche Eigenschaften hervorhebt (zB 'fromm', 'tugendhaft', großzügig') und alle Anwesenden sich ein verlegenes Grinsen verkneifen müssen, wenn der Verstorbene vielleicht eher ... andere Stärken hatte.
Muriel (Gast) - 13. Jan, 17:41

Ich persönlich finde ja auch die anderen Botschaften teilweise sehr gruselig, aber das sehen nun mal nicht alle so.

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"Ma dove?" ist italienisch und heißt "Aber wo?".
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Den Sinn des Lebens, meinen Platz in der Welt, meinen eigenen Stil, und eigentlich ständig meinen Schlüsselbund. Bislang mit mäßigem Erfolg, aber unverdrossen.
Um herauszufinden, was ich denke, lese ich gerne hier nach. Dafür muß ich es aber erst schreiben.
Daher das blog.


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