Ent-täuschung

Kleines Mädchen mit Gasmaske


Ich bin studierte Mathematikerin, und ich habe einen perfektionistischen Einschlag.
Das hat im täglichen Leben vor allem die Auswirkung, daß mir ständig schmerzhaft bewußt ist, daß ich zuwenig Fakten kenne, um die Schlußfolgerungen zu ziehen, die ich brauche, um irgendeine qualifizierte Entscheidung treffen zu können. Weil mir klar ist, daß meine Argumentationskette siebzehn Lücken hat, an denen ich Fakten oder logische Schlüsse durch Vermutungen ersetzen mußte.
Das führt abwechselnd dazu, daß ich versuche, zu vermeiden, Stellung zu beziehen und passiv in der Gegend rumhänge, oder, daß mir auch beim Stellung beziehen jegliche Sicherheit und Überzeugung fehlt, weil mir die potentielle Fehlbarkeit jeder meiner Überzeugungen so klar ist.
Und weil ich mich schon so oft geirrt habe, wie alle anderen Leute auch.

Das ist kein persönlicher Minderwertigkeitskomplex: Ich sehe diesen Makel bei den Argumentationen der anderen genauso. Sei es die eigene oder die Gegenseite, seien es Kommunalpolitiker mit Stammtischparolen oder von Professoren geschriebene Sachbücher, mir kräuseln sich alle paar Sätze die Fußnägel wegen der schwachen Argumentationen.
Und ich bin dann wütend und irgendwie auch neidisch, weil alle diese Leute sich anmaßen, überzeugt und kraftvoll für irgendwas einzutreten.

Dabei ist mir natürlich völlig klar, daß Nichtstun auch eine Form des Handelns und Entscheidens ist, und daß die Welt auch nicht besser würde, wenn wir alle zuhause blieben und gar nichts machen würden.
Deshalb mach ich gelegentlich die Tür zu dem Raum mit den äußerst berechtigten Zweifeln zu und folge meiner Intuition, oder erlaube mir, jemand anderem zu vertrauen und mich seiner Sache anzuschließen, oder folge einer Kette von absolut nicht hieb- und stichfesten Indizien"beweisen".
Insbesondere, wenn ich glaube, daß der Schaden für die Welt in dem Fall, daß ich mich irre, nicht allzu hoch ist, und in dem Fall, daß ich irrtümlich nichts tue, höher.

Warum ich das alles schreibe:
Von allen Themen, für die ich mich bis jetzt vorsichtig engagiert habe, ist dieser blöde Stuttgarter Bahnhof wahrscheinlich das global irrelevanteste.
Aber durch eine Kette von Zufällen (darunter ein wirklich guter, sogar meinen Ansprüchen teilweise genügender Vortrag und die Tatsache, daß ich die Schlichtung komplett sehen konnte, die zwar keine Schlichtung war, wohl aber ein halbwegs vertiefter Austausch der Argumente, der mir die Möglichkeit gab, zu erahnen, welche die besseren sind) ist es auch eines der Themen, wo ich mir meiner Position am sichersten bin.
Und wo ich mir die Tatsache, daß es anders läuft als ich es gerne hätte, nicht damit erklären kann, daß ich es halt vielleicht doch nicht alles kapiert habe und die anderen irgendwie recht haben.
Nein, wirklich. Haben sie nicht. Diesmal nicht, und ich bin mir sicher. So sicher, wie ich mir eben sein kann.

Dabei wird mir bewußt, daß das ein total naiver Trostgedanke war, den ich bisher aufrechterhalten konnte: "Ich weiß nicht genug und vielleicht hat die jeweilige Katastrophe, gegen die ich gerade erfolglos demonstriere, ja doch ihre Richtigkeit, und ich seh's nur nicht."

Und jetzt werden sicherheitshalber schonmal diese Bäume gefällt und der Südflügel abgerissen werden.
Während noch nichtmal das Planfeststellungsverfahren für alle Bauarbeiten durch ist.
Während es für bestimmte Teile der Tunnelarbeiten keine Firmen gibt, die sie durchführen können, weil die Technik dazu noch nicht geboren ist.
Während schon jetzt, bei dem einzigen Krümel, den sie gebaut haben, nämlich dem Grundwassermanagement, rauskommt, daß es unterdimensioniert ist und sie viel mehr abpumpen müssen als statisch durchgerechnet.
Und ich kann mir wirklich nicht sagen, daß es einen Sinn hat. Sondern es besteht für mich, wiklich, kein Zweifel, daß es ausschließlich darum geht, Fakten zu schaffen.

Das Projekt ist jetzt, in der Planungsphase, schon haarscharf an der finanziellen Obergrenze, die sowohl die Bahn für das Projekt gesetzt hat (aber die können als Unternehmen ihr Geld ja in den Sand setzen, wie sie wollen, das zahlt dann halt der Kunde), als auch derjenigen, bei deren Überschreitung die Landesregierung laut Koalitionsvertrag ihre Finanzierung verweigern müßte.
Und jeder, der mal auch nur einen Wintergarten gebaut hat, weiß, was bei Bauprojekten aus den Kostenrechnungen der Planungsphase wird.
Also müßte sich das Projekt, oder zumindest die Mitfinanzierung durch das Land, in wenigen Monaten erledigt haben.
Aber mit jeder weiteren Zerstörung, des Parks, des Südflügels, wird der Rückweg teurer und unrealistischer, und die Landesregierung möchte ich sehen, die den Stuttgartern sagt: Viel Spaß mit dem Krater, wir sind raus.

Wahrscheinlich ist das alles gar nichts Besonderes. Wahrscheinlich passiert das alles bei Hunderten von Großprojekten jedes Jahr, und es ist einfach nur eine Art Zufall, daß diesmal soviel darum gestritten wird und daß ich es dann auch noch so genau verfolgt habe.

Aber ich hab hieran wirklich eine Illusion verloren, von der ich überhaupt nicht wußte, daß ich sie hatte, nämlich die, daß es doch zumindest eine klitzekleine Chance gibt, daß alles halbwegs in Ordnung ist und ich mich irre. Die ganze Zeit irre.
Daß die Mehrheiten, die da wählen und kaufen und entscheiden, doch irgendwas verstanden haben, was ich nicht verstanden habe. Ich kann das logisch immer noch nicht ausschließen, aber ich kann es nicht mehr glauben, nichtmal das klitzekleine Bißchen, das mir tröstender Ausweg war.

Langfristig sollte das meine Entschlossenheit verstärken, und ich geh davon aus, daß es das auch tun wird.
Aber im Moment schaffe ich es nicht mal, nach Stuttgart zu fahren. Im Moment möchte ich nur heuled zuhause sitzen. Oder mit einem Baseballschläger rausgehen und alles kaputthauen. Und ich habe Träume, in denen ich ganz laut schreie und keiner reagiert.
Diese seltsame, wahrscheinlich niemanden außer mir überraschende Erkenntnis, daß vermutlich WIRKLICH soviel Scheiße passiert, wie ich immer dachte, muß ich erstmal verdauen, mich darin zurechtschütteln und mir überlegen, wie ich damit am besten weitermache.
Muriel (Gast) - 22. Jan, 11:49

Ich will ja nicht Cato d.Ä. geben, aber: Ist es nicht schon vom Grundsatz her kolossal albern, dass wir überhaupt über sowas diskutieren müssen?
Ich denke ja, über den Bau von Bahnhöfen sollten Bahnunternehmen entscheiden, mit ihrem eigenen Geld, nicht der Staat mit unserem.

madove - 22. Jan, 11:59

Abgesehen davon, daß ich (nicht überraschend) eine Anhängerin der Idee bin, daß Bahnunternehmen auch unsere wären und ihr Geld und ihre Entscheidungen damit unsere, weil ich finde, ihr Service ist nicht optional, ist Dir natürlich zuzustimmen.
Das löst aber mein Problem, daß auch und gerade der Staat Dinge macht, gegen die ich protestieren müsste, nicht wirklich.
DasSan (Gast) - 22. Jan, 17:48

Das mit den Kosten ist tatsächlich ein nicht zu unterschätzender Punkt. Bei uns hat man die halbe Stadt untertunnelt, um dort irgendwelche Regionalzüge langfahren zu lassen und das hat glaube ich bis jetzt etwa doppelt so viel gekostet wie geplant und dauert auch schon mindestens 1 Jahr länger als geplant, während sich die Einheimischen fragen, was der Sch*** eigentlich soll. ^^

Rodraeg (Gast) - 22. Jan, 20:47

Ah, Grüße an meine ehemalige Heimat :-)
madove - 22. Jan, 22:12

@Rodraeg: Sicher, daß das eindeutig ist? ;-)
Rodraeg (Gast) - 22. Jan, 22:46

Nein, aber die Beschreibung paßt ziemlich gut :-)

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"Ma dove?" ist italienisch und heißt "Aber wo?".
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Ich suche.
Den Sinn des Lebens, meinen Platz in der Welt, meinen eigenen Stil, und eigentlich ständig meinen Schlüsselbund. Bislang mit mäßigem Erfolg, aber unverdrossen.
Um herauszufinden, was ich denke, lese ich gerne hier nach. Dafür muß ich es aber erst schreiben.
Daher das blog.


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