"Lumpenpack" oder: Strategische Überlegungen


Sollte ich mich mal wieder verkleiden?
Das bin ich, 1998, Uni-Theater-AG.
Ich hätte eigentlich ganz gerne so einen Bart.

Kurz nach Fukushima (als ob jetzt "danach" wäre und nicht "während"...) haben wir hier in unserer schicken Kleinstadt eine kleine Anti-Atomkraft-Demo auf die Beine gestellt. Unter den gut hundert Teilnehmern war auch eine liebe ältere Kollegin, die sich hinterher an der Bushaltestelle mit anderen älteren Damen darüber unterhalten und von ihnen die Rückmeldung erhalten hat, bei den Teilnehmern handle es sich doch eh nur um "Lumpenpack".

Es geht mir nicht drum, jetzt beleidigt zu sein, sondern im Gegenteil: ich verstehe, wie sie drauf kommen. Ich lege großen Wert auf meine Dreadlocks und mein seltsames Hippie-Hobbit-Outfit und bin im Sommer gerne barfuß unterwegs, der Mann hat lange Haare und hatte ein bunt gebatiktes Kapuzenshirt an, und wir sind unter den Teilnehmern, die zum großen Teil ihre Eigenheiten auch gerne betonen, nicht aufgefallen.

Nun ist es schade, daß diese Damen uns deshalb nicht ernst nehmen. Ich denke zwar, sie begehen damit einen Fehler (ich gehe davon aus, daß ich beruflich, akademisch und auf dem jeweilig zu diskutierenden Gebiet mindestens so qualifiziert bin wie ein beliebiger Anzugträger in der Fußgängerzone), aber man muß der Tatsache ins Gesicht sehen, daß das nunmal der Eindruck ist, den wir auf die Mehrheit machen. Und da so eine Demo ja kein Selbstverwirklichungstrip ist, sondern eine Veranstaltung mit dem Ziel, einen bestimmten Eindruck zu machen, erwäge ich ernsthaft, mir ein schickes Kostüm zu kaufen, mir die Haare hochzustecken und elegantes Make-Up anzulegen, wenn ich zur nächsten Mahnwache gehe. Dinge, die ich nicht mal für eine Diplomprüfung zu tun bereit war. Oder für Vorstellungsgespräche.
Aber wenn die öffentliche Wahrnehmung so bescheuert ist (und zumindest hier in der Kleinstadt ist sie das)... - die sollen ja nicht mich als Person mögen oder schätzen, sondern meinen Argumenten zuhören. Und wenn sie das nicht können, wenn ich einen Wickelrock trage, sollte ich ihnen vielleicht eine Chance geben?

Ich habe ja immer noch den Trost, in meiner Werkstatt den Hippie raushängen lassen zu können und trotzdem von der lokalen Schickeria hofiert zu werden, weil sie auf dem Gebiet auf mich angewiesen sind. Da wollen SIE ja was von MIR.
G u i n a n (Gast) - 4. Jul, 11:59

Dann möchte ich aber _bitte_ davon auch ein Foto sehen.

madove - 4. Jul, 18:12

Wenn ich mich tatsächlich dazu durchringe, gibts das, versprochen.
rebhuhn - 4. Jul, 17:48

das ist ja oft das problem - 'verbiegt' man sich wirklich so sehr, wenn man sich an gepflogenheiten [wo auch immer] temporär anpasst, um 'dinge' zu erreichen? ich finde, nicht. auch ein grund dafür, warum ich bei kundengesprächen schick/dunkel/jacket/zurückhaltend aufkreuze, obwohl ich sonst 'bunt und bunter/großer schmuck' trage ^^. die frage ist eben wirklich 'nur': können die das nicht? dann solltest du/sollten alle das so machen, also, sich verkleiden. findet man, die 'wollen' nicht, _darf_ man sich eigentlich 'aus prinzip' nicht verkleiden... oder? jetzt bin ich verwirrt.

[ich glaube ja, sie können größtenteils nicht wollen ^^.]

madove - 4. Jul, 18:12

Ja, damit hast Du aber eigentlich brilliant die darunterlegende Frage herausgearbeitet: Können sie nicht oder wollen sie nicht? Oder, wenn Du recht hast, was ich fürchte, und sie nicht wollen können, kann oder soll oder darf man sie dann eher konfrontieren oder eher "belügen", indem man sich anpaßt?
Ich bin wirklich unsicher. Meine Bereitschaft zur Anpassung ist sehr gering und wird mit zunehmendem Alter immer geringer, andererseits find ich es auch albern, sich freiwillig zu disqualifizieren (in den Augen der Mehrheit) und sich dann zu wundern, wenn man nicht ernst genommen wird. Sei's auch aus falschen Gründen. Hm.
Okay. Ich bin auch verwirrt.
rebhuhn - 4. Jul, 19:16

ich finde, das muß man von seinen zielen abhängig machen. je wichtiger, desto größer müßte die bereitschaft sein, sich zu verbiegen bzw. 'das gute im menschen anzunehmen' und davon auszugehen, daß sie eben nicht können.

zb habe ich die erfahrung gemacht, daß ich im zug in der 1. klasse komplett ignoriert werde, wenn ich in werkermontur [direkt aus der eisengießerei, ich mit helm am rucksack, schweißerschuhen an den füßen und arbeitsanzug am leib] dort zu meinem platz in der 2. durchgehe. das geht soweit, daß die füße nicht zurückgezogen werden und ich drübersteigen muß. das ist mir in 'normaler' montur noch nie passiert. wiederholbar aber in werkerklamotte. find' ich scheiße, ist mir aber egal [wenn jemand nicht die füße zurückzieht]. - im job hingegen ist es mir aus loyalität meinem arbeitgeber gegenüber wichtig, daß ich als mathematiker/projektleiter von managern/geschäftsführern im alter meines vaters [5o-65] als 'kompetenz' wahrgenommen werde. da kann ich mit riesigen, pinken ohrringen, schönem offenen haar und strahleaugen nicht wirklich punkten - außer als FRAU. die ich da nicht sein will, jedenfalls nicht vom ersten eindruck her ... du weißt schon. also business-chic. so löse ich das für mich.

[ich glaube, daß es da nicht so richtig die eine wahrheit gibt, sondern daß es darauf ankommt, welche menschensicht man so hat. :)]
madove - 4. Jul, 22:11

Volle Zustimmung. Zu allem.

Loyalität ist auch ein guter Punkt. Mir für mich Vorteile zu "erschleichen", indem ich mich verstelle, wäre es mir nicht wert. aber zB für berufliche Sachen von dem Mann verkleide ich mich auch immer relativ liebevoll. Und für "die gute Sache", whatever, fällt mir der Gedanke auch leichter.
@Werkermontur: Cool! Was hast du da gemacht?
Ich hab eine ähnliche Erfahrung gemacht, als ich an der Uni mit einem Kittel gearbeitet habe, der aussah wie ein Putzfrauenkittel - niemand schaut Dich an, niemand macht Dir Platz oder grüßt gar. Schon als normale Studentin in Zivil wurd ich ganz anders wahrgenommen.
Leute sind schon krass.
Aber dann halt ich mich mal brav an meinem positiven Menschenbild fest und erwäge, ihnen eine Chance zu geben.
rebhuhn - 5. Jul, 11:59

ja, 'putzfrauenkittel'.... ^^ und im kh mit 'nem weißen kittel bist du wiederum der held vom weizenfeld. echt schlimm.

zur werkermontur: einmal hier, ich präzisier das aber gern noch in 'ner mail, falls du magst :).
madove - 5. Jul, 14:30

Ja, ja, ja, präzisieren!!!

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"Ma dove?" ist italienisch und heißt "Aber wo?".
Der "Name" ist eigentlich zufällig an mir hängenge-blieben, paßt aber bestechend:
Ich suche.
Den Sinn des Lebens, meinen Platz in der Welt, meinen eigenen Stil, und eigentlich ständig meinen Schlüsselbund. Bislang mit mäßigem Erfolg, aber unverdrossen.
Um herauszufinden, was ich denke, lese ich gerne hier nach. Dafür muß ich es aber erst schreiben.
Daher das blog.


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