Cola

Nach allem, was ich darüber gehört habe, scheint Richard David Prechts Buch "Lenin kam nur bis Lüdenscheid" ziemlich genau meine Kindheit zum Thema zu haben.
Ich habe es noch nicht gelesen, es steht auf dem Geburtstagswunschzettel. Auch seine anderen Bücher scheinen nett zu sein, und insgesamt wirkt er eloquent und unterhaltsam, also bin ich meiner Neugier gefolgt, habe nach Precht und podcast gegoogelt und mir 5-6 Stunden verschiedene Interviews mit ihm in die Werkstatt mitgenommen.

Sie sind sehr verschieden, teils von Kultur- und teils von Popsendern, aber keiner der Gesprächspartner läßt sich an irgendeiner Stelle die Frage entgehen: "Aber war das denn nicht traumatisch, so eine Kindheit? Ich meine, Sie durften keine Cola trinken!?"

Das macht mich wirklich etwas ratlos.
Ich meine, es war nicht immer lustig, beim "Fernsehfangen" nicht mitspielen zu können, weil man keine Fernsehserie kennt, deren Namen man rufen könnte, um nicht gefangen zu werden. Oder in praktischen oder gesunden oder ökologisch hergestellten Klamotten statt in Jeans zur Schule zu gehen, während man den Eindruck gewinnt, das Leben hinge an Markenklamotten. Oder nicht Monopoly spielen zu sollen, weil das den Kapitalismus verherrlicht. Oder wahrscheinlich auch, keine Cola zu kriegen.

Aber ich würde den Damen und Herren gerne erzählen, was traumatisch ist.
Traumatisch ist es, nach einer Kindheit, die geprägt war von der Überzeugung, daß wir auf einem Weg sind, der (langsam und gegen den Widerstand der Noch-Herrschenden) zu einer Welt führt, in der ganz selbstverständlich alle wenigstens irgendwie etwas zu essen haben, in der man vermeidet, unsere Lebensgrundlage völlig plattzumachen, in der sowohl Atomwaffen als auch Kernkraftwerke Vergangenheit sind, in der Frauen ganz normale Menschen sind, in der alle Menschen Zugang zu Bildung haben und deshalb gemäß ihren Fähigkeiten ihren Beitrag zu Gesellschaft leisten können, und eben in der wir alle gegenseitig ein ganz klein bißchen aufeinander aufpassen (das hieß "Solidarität". Lange nicht mehr gehört, das Wort.),
*lufthol*
...wenn man also mit der Überzeugung aufgewachsen ist, daß das das Ziel ist; wie schwer erreichbar und fern auch immer, dann ist es traumatisch, festzustellen, daß die Mehrheit der Menschen um Dich rum das Gegenteil (Hunger, Atomkraftwerke, Massentierhaltung, Urwaldverbrauch, Vergewaltigungen, Milliardäre, SUVs...) für normal hält. Wirklich.
Ich sehe auch, daß das die Realität ist, Leute, aber es ist nicht normal. Was ist denn daran normal???

Das ist traumatisch.
Die Cola könnt Ihr Euch irgendwo hinkippen.
Muriel (Gast) - 3. Jan, 13:39

Cola würde ich jetzt auch nicht vermissen.
Aber ... also, ich glaube eigentlich schon, dass wir auf dem Weg sind.
Langsam.
Gegen den Widerstand keineswegs nur der Herrschenden, wer auch immer das sein mag.
Aber schon.

madove - 3. Jan, 19:23

Dein Wort in irgendjemandes Ohr...
Ich weiß nicht. Manchmal denk ich das auch, und dann denke ich wieder ganz oft das Gegenteil (in der Zeit, als ich aufgewachsen bin, hat man Werbung für Lego gemacht mit Mädchen in Latzhosen. Und es hatten alle Leute Zähne (wirklich). Und es hing nachts nicht über jeder Mülltonne jemand mit einer Taschenlampe. Und Uni war wirklich kostenlos, und Schue auch.
Das war eine ziemlich kurze Zeitspanne, so global gesehen, und da waren wir auch das Schaufenster des Westens, ich weiß. Trotzdem.) Ich seh die Tendenz eher gegenläufig.
Stimme Dir aber zu, daß der Widerstand nicht nur von den Herrschenden kommt. Das ist wahrscheinlich der Punkt, der mich am ratlosesten macht.
Muriel (Gast) - 3. Jan, 21:42

In der Zeit, als du aufgewachsen bist, war Homosexualität strafbar.
Ich weiß nicht, ob du Zahlen über den Anteil der Leute mit Zähnen hast und bin selbst zu faul, sie rauszusuchen, aber ich weiß jedenfalls, dass Uni und Schule nie kostenlos waren.
Ich würde darüber hinaus auch in so ziemlich allen anderen Aspekten nachdrücklich bestreiten, dass damals irgendwas signifikant besser war.
Die Entwicklung ist langsam, und natürlich nicht streng stetig.
Aber ich halte sie schon für recht gut erkennbar.
Interessant, dass du eine genau entgegengesetzte ähnlich deutlich siehst.
Damit wäre womöglich die Gelegenheit gekommen, selbst zu tun, was wir uns immer von anderen wünschen, und konkret zu werden.
Woran wollen wir die Qualität der Gesellschaft festmachen, damit wir überprüfen können, ob sie in den letzten Jahrzehnten gestiegen oder gesunken ist?
Oder haben wir da gerade keine Lust drauf und machen lieber was Lustigeres?
Ich will niemandem was aufzwingen.
madove - 3. Jan, 22:09

Nein, ich wäre sehr daran interessiert, meine persönliche Wahrnehmung anzupassen und nicht nur spotlight-artig anekdotenhaft irgendwelche Gesichtspunkte rauszugreifen und deshalb verzweifelt aus dem Fenster zu springen.

Das klingt schon nach Arbeit, insbesondere, weil wir ja nicht nur die Kriterien raussuchen, sondern sie dann auch mit Zahlen oder Einschätzungen füllen müssen.

Aber wir können ja mal anfangen zu sammeln. (Es gibt ja durchaus alle möglichen Listen von Kriterien, wonach man die Qualität einer Gesellschaft bewerten könnte, aber ich fang das jetzt mal ganz unbeeinträchtigt von Vorkenntnissen an. Wenn wir uns grob auf (West-?)Deutschland beschränken, kann man sowas wie Kindersterblichkeit und Analphabetismus und Witwenverbrennungen vielleicht rausrunden.)

Mir wäre vielleicht wichtig (noch unsortiert, und spontan):
- auf welchem Niveau leben die ärmsten Leute, und wie viele gibt es davon grob?
- Zugang zu Gesundheitsversorgung, grundlegende und spezialisierte?
- wie erreichbar/durchlässig ist das Bildungssystem für wen?
- persönliche Freiheit (redet man mir in Privatsachen rein, die niemandem schaden, zB Sex)?
- Diskriminierungsfragen (Sexismus/Rassismus etc.), sowohl in der Gesetzgebung als auch in der gesellschaftlichen Praxis?
- irgendwie schon sowas wie Lebensbedingungen der Mehrheit? Ich will das nicht an diese blöde Arbeit knüpfen, aber kann die Mehrheit der Leute, wenn sie sich ein bißchen Mühe gibt und nicht zuviel Mist baut, damit rechnen, irgenwann einen erträglichen Lebensstandard für sich und Familie zu erreichen und sich darin halbwegs sicher fühlen? Auf welchem Level liegt der dann so?
- Wenn es allen supergut geht, ist mir eigentlich egal ob es ein paar extrem reiche Leute gibt, aber solange es nicht allen supergut geht, find ich die Verteilungsfrage/Schere/... schon relevant.
- Umwelt (extrem komplex und übel zu quantifizieren): Wie sehr und wie schnell sägt die Gesellschaft grade den Ast ab, auf dem sie sitzt?
- ... da fehlt bestimmt noch viel, mach mal weiter.

Muriel (Gast) - 3. Jan, 22:21

Hui... Da bräuchten wir jetzt vielleicht Keoni, die studiert ja gerade sowas, wenn auch eher für Entwicklungsländer.
Mein Vorschlag wäre aber, dass wir, weil ich faul bin, uns ruhig erst mal auf deine Ideen beschränken. Nach meiner relativ von Fakten unbelasteten Wahrnehmung müssten die Daten, die wir dazu finden, meine Wahrnehmung stützen, aber es dürfte eine wirklich ordentliche Arbeit werden, sie überhaupt erst mal zu finden und sich dann drauf zu einigen, welches wirklich die sind, die wir nehmen wollen, und so.
Mach ich da vielleicht mal einen Blogartikel draus?
Hmmm...
Wäre jedenfalls mal wirklich spannend.
Wenn man es Frage für Frage durchgeht, könnte es zu schaffen sein. Ich mache mir mal Gedanken, hab ja jetzt gerade ein Wochenende. Vielleicht fällt da mal eine Stunde dafür ab, oder so.
madove - 4. Jan, 09:54

Das fände ich gut.
Und nur, um das nochmal klarzustellen, meine These ist kein generelles "Früher war alles besser", sondern ich persönlich habe (ähnlich unbelastet von Fakten) einfach den Eindruck, irgendwo in den Siebziger/Achziger Jahren hätte es einen peak gegeben, und seither geht es auf vielen der Gebiete, wo ich dachte, es könne nicht bergab gehen, weil wir es ja jetzt VERSTANDEN haben, wieder bergab.

Detailbeispiele sind eben wirklich so Sachen wie Rolle der Frau, da war zwar alles noch ein bißchen krude, aber generell hatte ich das Gefühl, es gibt eine Art Konsens, auch in FilmFunkundFernsehen, daß die alten Genderklischees so nicht mehr tun, und ich empfinde heutige Medienprodukte auf dem Gebiet als aktiv rückschrittig.

Oder zB so Umweltsachen. Ich dachte, wir hätten kapiert, daß es keine gute Idee ist, winzige Produkte in tonnenweise Plastik zu verpacken, und es war auch großen schicken Marken unproblematisch möglich, zugunsten von Karton auf Blisterverpackungen zu verzichten, also dachte ich "okay, wenigstens dieser Punkt ist durch", aber war doch nur eine Phase, und jetzt ist es krasser als je zuvor. Wie kann man denn von sowas wieder zurück?!

Also selbst wenn durch Produktivitätssteigerungen und Technik der Lebensstandard insgesamt besser geworden sein sollte, komme ich einfach nicht damit klar, wenn Schritte ZURÜCK gemacht werden, weil mir das die Hoffnung nimmt, wir müßten nur allmählich Schritt für Schritt Verbesserungen durchsetzen (schwer und langsam genug).
Muriel (Gast) - 4. Jan, 13:11

Habe ich so verstanden.
Meine Wahrnehmung ist halt eine andere. Teils, weil mir das Bewusstsein für diese Genderthemen heute eigentlich besser (noch lange nicht gut) vorkommt, und teils weil ich zum Beispiel gar nicht überzeugt bin, dass es ein Fortschritt wäre, zugunsten von Kartons auf Blisterverpackungen zu verzichten. Der Punkt ist also bei mir auch noch nicht durch.
Den Stand von Genderthemen in Medien zu prüfen, dürfte natürlich auch echt schwer werden. Kommt es dir denn wirklich in dem Fall so vor, dass es da insgesamt auch auf Ebene des gesamtgesellschaftlichen Diskurses zurück geht, oder sind es eher einzelne Sachen wie Kinderüberraschung nur für Mädchen oder Mobiltelefone für Frauen (die meines Wissens schon lange wieder tot sind, aber was weiß ich schon?), die dich irritieren?
Ich denke zum Beispiel eher in Richtung von Medienprodukten wie West Wing oder Newsroom oder auch Treme, die aus meiner Sicht einen Umgang mit gesellschaftlichen Themen zeigen, den es so früher nicht im Fernsehen gab, und darüber hinaus zumindest für meinen Geschmack auch eine beispiellose Qualität in der Unterhaltung.
Denn dass Schritte zurück stattfinden, sehe ich natürlich auch. Das ist aber bei jedem Prozess so und dadurch zwar nicht weniger ärgerlich, aber andererseits in meinen Augen auch kein Grund zu großer Sorge.
Maike (Gast) - 4. Jan, 22:18

Ich hatte auch so eine Kindheit

Hallo,
ich bin gerade von Muriel hierüber geklickt. Ich hatte auch so eine Kindheit (aber nicht in der Provinz, aber in genau dem Milieu) und habe das Precht Buch, ist aber lange her, mal gelesen. Er beschreibt das meiner Erinnerung nach alles recht freundlich.
Ich würde dem Verfasser eigentlich sehr zustimmen, all die Menschen, die keinen Fernseher hatten, die ich kenne, bei denen das so war hat es nicht geschadet, sind alle was ordentliches in die "normale Gesellschaft" integriertes geworden und froh. Eine häufiger zu beobachtende Problematik ist, das mit der antiautoritären Ideologie, laissez faire, teilweise auch Vernachlässigung einherging, vielleicht nur in Einzelfällen. Traumatisch ist echt eher zu sehen, dass die Ideale, die einem beigebracht wurden, zum Teil zumindest, nicht mehr zählen.

Zu der früher/heute Diskussion würde ich kurz die These anreißen wollen, dass wir es momentan mit gegenläufigen Entwicklungen zu tun haben. Auf der sozialen Ebene haben wir ein Auseinanderdriften, die gesundheitliche Versorgung, Zugang zu Bildung wird für die "unteren Schichten" schlechter. Ich meine, dass es dazu auch Studien gibt - Zur Undurchlässigkeit des Bildungssystems - Das wird zumindest nicht besser - Obwohl der wissenschaftliche Fortschritt es vielleicht ermöglicht, mehr Integration zu verwirklichen. Dass die Zahnversorgung schlechter ist, kann doch eigentlich nicht ernsthaft bezweifelt werden, oder?

Dafür ist auf der Ebene der, hm, sexuellen Identitäten, Gleichstellung eine positive Entwicklung zu verzeichnen, auch das kann ja eigentlich nicht ernsthaft bezweifelt werden. Langsam aber sicher bahnen sich die Frauen ihren Weg an die Spitzenposten der Gesellschaft - 30% Frauen im Kabinett, das war vor 30 Jahren noch nicht so., Homosexualität ist nicht mehr verboten, Vergewaltigung in der Ehe dafür endlich schon. Im Grundsatz kann ich heute mit meinem Hund verheiratet sein, so lange ich irgendwas anzubieten hab, was in unserer Gesellschaft nachgefragt wird (Programmieren zum Beispiel).

madove - 4. Jan, 22:26

Hallo, und willkommen, und danke für Deinen Kommentar.
Den ich sehr interessant finde. Ich bin ja auch noch gespannt, ob und wie Muriel die Zahnversorgungsverschlechterung anzweifelt.
Und andersrum bin ich nach Euren beiden Kommentaren tatsächlich ein bißchen am Zweifeln, was Genderkram angeht - es gibt natürlich deutlich mehr Freiheit, und mehr Frauen in Führungspositionen, aber ich persönlich nehme eben den Backlash in Werbung und Mainstreamfernsehen schon sehr schmerzhaft wahr - also es ist dort alles wieder so rosa und püppchenhaft und kleinfamilig geworden, und da gab es meines Erachtens ein kurzes Zeitfenster mit einer merklich anderen Ästhetik. Ob dadurch jetzt die Welt besser war, sei dahingestellt. Es war vielleicht auch nur zufällig eine Ästhetik, in der ich mich wohlgefühlt habe...
Muriel (Gast) - 5. Jan, 00:07

Naja, die Sache dürfte offensichtlich sein: Ich zweifle natürlich nicht an, dass die gesetzlichen Krankenversicherungen (keineswegs nur) für die Zahnversorgung weniger zahlen.
Das ist einfach in meinen Augen keine bedauerliche Entwicklung.
madove - 5. Jan, 00:23

Zweifelst du dann an, daß das dazu führt, daß heute tatsächlich messbar mehr Menschen in Deutschland ohne brauchbare Zähne rumlaufen?
Oder findest Du das auch keine bedauerliche Entwicklung?
(Vor der Antwort habe ich tatsächlich ein bißchen Angst.)
Muriel (Gast) - 5. Jan, 01:37

Ich halte es für nicht ganz unplausibel, zweifle es aber trotzdem an.
Die Entwicklung, wenn sie so wäre, fände ich für sich betrachtet natürlich bedauerlich, im großen Kontext des allmählichen Versagens der sozialen Sicherungssysteme des Staates und des entsprechenden Verlustes von Vertrauen in seine Leistungsfähigkeit aber für akzeptabel, wenn das Ergebnis eine möglichst weitgehende Privatisierung und Liberalisierung des Gesundheits- (und aller anderen Lebens-) bereiche ist.
madove - 5. Jan, 01:42

Okay.
Hier werden wir wahrscheinlich schon irgendwann spektakulär clashen müssen.
Aber nicht mehr heute nacht.
Muriel (Gast) - 5. Jan, 02:00

Ich sollte vielleicht etwas ausführen, worum es mir geht.
Dass das früher bezahlt wurde, und heute nicht mehr, liegt ja (Siehst du das auch so? Ich halte es für offensichtlich, aber das heißt ja nicht, dass ich Recht habe.) nicht an dem früher grassierenden gesamtgesellschaftlichen Konsens, dass jeder unbedingt seine Zähne bezahlt bekommen muss, sondern eher daran, dass sich früher niemand drüber Gedanken gemacht hat, weil das Geld eben recht bequem reichte und keine Diskussion stattfand.
Heute wird die Knappheit und die mangelnde Nachhaltigkeit des Systems erkennbar, und man reagiert darauf natürlich tragisch kopflos und irrational, keine Frage, und ich fände es toll, wenn wir stattdessen einen Übergang durchführen können, über den wir nachgedacht haben, und unter dem möglichst niemand ernsthaft leiden muss.
Aber ich halte das alte System in seiner Gesamtheit tatsächlich für schrecklich irregeleitet und sein Scheitern für unausweichlich, deswegen hoffe ich einfach, dass es möglichst bald und möglichst wenig desaströs kommt, und wir es schaffen, rechtzeitig ein besseres aufzubauen, das nicht auf tönernen Füßen steht.
Ob das für einen spektakulären Clash reicht, können wir gerne auch an einem anderen Tag herauszufinden versuchen.
madove - 5. Jan, 02:19

Ich komme mit diesem Kommentar besser klar, weil er (nicht wirklich überraschend, sorry, ja) klarstellt, daß Du offensichtlich schon auch tendenziell antrebst, daß es möglichst vielen Leuten gut geht und so oder so.
Ich teile aber Deine Einschätzungen ehrlich gesagt alle wirklich überhaupt nicht.
Ich kann es nicht plausibel finden, daß auf dem heutigen Stand der Produktivität und des insgesamt verfügbaren Vermögens die Ressourcen nicht reichen, um Zähne, Brillen, und sonstwie grundlegende Versorgung für alle sicherzustellen.
Ich denke darüberhinaus nicht, daß irgendjemand mal im Suff die Idee hatte, kostenlos Zeug unters Volk zu werfen und alle haben gepennt und niemand hats verhindert, sondern sehe den Sozialstaat und die gesetzliche Gesundheitsversorgung als das (noch lange nicht ausreichende und perfekte) Ergebnis eines langen und extrem wünschenswerten Fortschrittsprozesses.
Du kennst seine Schwächen ganz sicher viel besser als ich aus Deiner täglichen Erfahrung, aber ich wäre wirklich so unglaublich neugierig, wie das in Deinem Kopf aussieht: Wie in einem privaten, dem freien Markt unterworfenen System ein Arbeitsloser mit drei Kindern und Vorerkrankungen oder ein Blinder Einbeiniger aus einer unvermögenden Familie eine akzeptable Versorgung aushandeln und bezahlen sollen? Ich versteh einfach überhaupt nicht den Hauch einer Hoffnung, daß irgendjemand außer den Stärksten dabei gewinnt? Wie sollten wir denn?
Muriel (Gast) - 5. Jan, 09:23

"Ich teile aber Deine Einschätzungen ehrlich gesagt alle wirklich überhaupt nicht."
Da nicht mal ich selber die teilen kann, kann ich dir das nicht verübeln. Die sind wirklich schon ziemlicher Quatsch.
"Ich kann es nicht plausibel finden, daß auf dem heutigen Stand der Produktivität und des insgesamt verfügbaren Vermögens die Ressourcen nicht reichen, um Zähne, Brillen, und sonstwie grundlegende Versorgung für alle sicherzustellen."
Ich auch nicht. Die Annahme wäre ganz offensichtlicher Stuss.
Ich denke darüberhinaus nicht, daß irgendjemand mal im Suff die Idee hatte, kostenlos Zeug unters Volk zu werfen und alle haben gepennt und niemand hats verhindert sondern sehe den Sozialstaat und die gesetzliche Gesundheitsversorgung als das (noch lange nicht ausreichende und perfekte) Ergebnis eines langen und extrem wünschenswerten Fortschrittsprozesses.
Ganz genau so sehe ich das auch.
ich wäre wirklich so unglaublich neugierig, wie das in Deinem Kopf aussieht:
Das erläutere ich gerne. Mein Kopf ist dein Kopf.
Wie in einem privaten, dem freien Markt unterworfenen System ein Arbeitsloser mit drei Kindern und Vorerkrankungen oder ein Blinder Einbeiniger aus einer unvermögenden Familie eine akzeptable Versorgung aushandeln und bezahlen sollen?
Zum Beispiel mit der Hilfe derer, denen es besser geht als ihm.
Zum Beispiel mit Hilfe, die nicht auf Basis von Zwang und Gewaltandrohung eingefordert wird, sondern freiwillig gegeben aus Mitgefühl und der Einsicht heraus, dass es in einer Gesellschaft nicht darum geht, gegeneinander zu gewinnen, sondern miteinander, und dass es allen viel viel besser geht, wenn alle stärker sind, weil dann alle zur Leistungsfähigkeit, zum Fortschritt und zum Wohlstand dieser Gesellschaft beitragen können, und wollen.
Ich kann mir echt nicht vorstellen, dass du wirklich glaubst, dass man Menschen nur mit der Androhung von Schlagstöcken, Gewehren und Justivzollzugsanstalten dazu kriegt, anderen Menschen zu helfen, und trotzdem denselben Menschen zutraust, diese Zwangsmittel edel und gut in den Dienst der Hilflosen und Benachteiligten zu stellen, ohne sie furchtbar zu missbrauchen. Solltest du das doch tun, wäre ich sehr neugierig darauf, wie du diese zwei für mich unvereinbaren Menschenbilder zusammenbringst, und anderenfalls sollte mein Szenario für dich ähnlich wie für mich ein sehr erstrebenswertes und gar nicht so unplausibles sein, zu dem nicht mehr fehlt als sehr sehr viel Bildung und mehr gesellschaftlicher Fortschritt (was natürlich schon nichts mehr mit unserem ursprünglichen Thema zu tun hat, aber da das während der Recherche ohnehin auf Eis liegt und du gefragt hast, wollte ich auch antworten).
madove - 5. Jan, 11:52

Es tut mir leid, wenn ich bei den "Einschätzungen" ein bißchen gegen einen Strohmann argumentiert habe, und es freut mich, wenn wir uns da nicht uneinig sind, aber ich lese Deinen vorletzten Kommentar eigentlich immer noch so, wie ich ihn zusammengefasst hatte - was hattest Du denn in Wirklichkeit gemeint? Das Geld ist da und Sozialstaat ist gut, nur die Art wie er organisiert ist is scheiße und muss weg? (Da könnte ich mit)

Aber, ja, das eigentlich interessante Thema ist das Menschenbild, und darüber wollte ich mit Dir schon lange mal richtig und in Ruhe.
Ich mach das jetzt mal ehrlich und ohne den Versuch, dabei gut wegzukommen.

Also mein Menschenbild hatte ich ja schonmal erläutert:
Ich denke, die meisten Leute sind ganz okay und relativ sozial und wohlwollend, aber erstens oft ein bißchen bequem und feige, und zweitens setzen sich meiner Erfahrung nach in einem ungeregelten System die wenigen, die nicht durch Empathie oder Skrupel gebremst werden, am ehesten durch und gestalten die Entscheidungen, sodaß es mir nichts nützt, daß die meisten Leute nett sind.

Und dann antworte ich auch auf die Frage in Deinem letzten Absatz ehrlich, auch wenn das nicht der Punkt ist, bei dem ich besonders attraktiv wegkomme:
Ich denke, daß so ein Staat unter anderem durch Hypokrisie funktioniert.
Also wenn Du die Leute fragst, ob sie es okay finden, daß jemand sich keine Zähne leisten kann, oder ob wir lieber alle zusammenlegen, damit das nicht vorkommt, dann werden meiner Wahrnehmung nach die meisten [wir lassen hier einen GANZ GROSSEN Block über demokratische Mechanismen und die Probleme von Mehrheitsdiktaturen erstmal raus, okay?] etwas antworten, was ich wünschenswert finde. Wenn ich aber abends ungewaschen und ohne Zähne an ihrer Tür klopfe, werden sie mir wahrscheinlich nicht ein paar hundert Euro in die Hand drücken. Staat kann das umsetzen. Die Leute wählen (im Idealfall, kann auch nach hinten losgehen), was sie gerne hätten, weil sie dann nicht merken, daß sie es machen müssen.
Wie gesagt, das ist kein schönes Argument. Aber ich würde es nutzen.

Zweitens: Bei allen Problemen in meinem Gesellschaftsbild interessiert mich in Deinem vor allem das folgende Problem:
Wenn ich auch Sozialleistungen, bei denen wir uns einig sind, daß sie gemacht werden müssen, der Freiwilligkeit überlasse, dann werden sie nur von denjenigen geleistet, die genug Empathie/Altruismus/bla fühlen. Kann schon sein, daß das genug sind, werden es ziemlich sicher sogar sein. Aber es ist effektiv wie eine Steuer auf Nettigkeit mit Steuerbefreiung für egoistische Arschlöcher. Ich verstehe nicht, warum das wünschenswert erscheinen kann.
Insbesondere in einem explizit auf Konkurrenz basierenden Wirtschaftssystem, in dem nicht mal vorgesehen ist, daß man Leute schmäht, die egoistisch handeln. Sondern explizit im Gegenteil.
Ein kleines bißchen machen das die Konsumenten ja sogar noch und erzeugen damit etwas Benefizdeko und Greenwashing, aber das halte ich nicht für ein tragendes Konzept, um soziale Probleme zu lösen.

Und wahrscheinlich habe ich letztendlich tatsächlich ein tiefsitzendes Problem mit Privateigentum. Also eigentlich, in der Tiefe meines Herzens, finde ich immer noch keinen Grund dafür, warum ich irgendjemandes Recht und Freiheit verteidigen soll, andere von der Nutzung von Resourcen und Reichtum auszuschließen, die er im Status quo eben aus irgendwelchen Gründen sein Vermögen nennen darf, und warum ich ihn vor dem Zwang, davon etwas abzugeben, mehr schützen sollte als den anderen vor der Zahnlosigkeit.
Hier ist dann eigentlich vor allem mein Problem, daß ich im Ergebnis nicht sicher bin, ob der Staat, den ich verteidige, im Ergebnis trotz aller kleinerer Umverteilungsaktionen wie Steuerprogression und Pseudosozialstaat nicht eher eine Einheit ist, deren Hauptfunktion es eben ist, genau dieses Eigentum zu schützen.

Ich spring dann mal eben aus dem Fenster.
Kommt jemand mit?
Ah. Erdgeschoss. Gut.
Muriel (Gast) - 5. Jan, 12:52

Im Großen und Ganzen ja.
Und etwas mehr aufgedröselt:
Ich denke, die meisten Leute sind ganz okay und relativ sozial und wohlwollend, aber erstens oft ein bißchen bequem und feige, und zweitens setzen sich meiner Erfahrung nach in einem ungeregelten System die wenigen, die nicht durch Empathie oder Skrupel gebremst werden, am ehesten durch und gestalten die Entscheidungen, sodaß es mir nichts nützt, daß die meisten Leute nett sind.
Ja. Ich stimme dir da zu, mit der Einschränkung, dass es so etwas wie ein ungeregeltes System nicht gibt.
Und ich denke, dass wir ein System schaffen können, dass so geregelt ist, dass sich nicht die Armleuchter durchsetzen, zum Beispiel, weil die, die keine sind, sie nicht lassen. Verantwortung und Bildung und so.
Ich denke, daß so ein Staat unter anderem durch Hypokrisie funktioniert.
Da hast du vollkommen Recht. Deswegen, auf die Gefahr hin mich zu wiederholen: Bildung, und gesellschaftlicher Fortschritt (was natürlich potentiell nichtssagende Phrasen sind, von denen ich hier aber hoffe, dass du verstehst, was ich damit sagen will, ohne dass ich es hier explizit hinschwalle), damit wir auch ohne Hypokrisie anderen zu helfen bereit sind und unsere Hilfe auf rationaler Basis geben und verteilen könne, statt auf der idiotischen, die wir jetzt benutzen.
Wenn ich auch Sozialleistungen, bei denen wir uns einig sind, daß sie gemacht werden müssen, der Freiwilligkeit überlasse, dann werden sie nur von denjenigen geleistet, die genug Empathie/Altruismus/bla fühlen.
Nur wenn das System schlecht geregelt ist. Ich hatte ja nun ausdrücklich geschrieben, dass Empathie der eine Aspekt ist und Einsicht in nicht nur den Sinn, sondern die Notwendigkeit eines solchen Systems auch und gerade im eigenen Interesse der zweite, und für Leute wie mich, die es mit der Empathie nicht so haben, eindeutig wichtigere. Mir ist es anscheinend noch nicht gelungen, dir zu verdeutlichen, dass eine anarchische (im Sinne von: ohne obrigkeitliche Herrschaft) Gesellschaft keine ist, in der es keine Regeln gibt und jeder einfach nur macht, wonach ihm gerade ist, ohne dass das irgendwelche Konsequenzen haben dürfte.
Insbesondere in einem explizit auf Konkurrenz basierenden Wirtschaftssystem, in dem nicht mal vorgesehen ist, daß man Leute schmäht, die egoistisch handeln. Sondern explizit im Gegenteil.
Ein solches Wirtschaftssystem würde ich nicht wollen, und ich kenne auch niemanden, der das will. Also, niemanden, den man irgendwie erst nehmen könnte. Was Donald Trump in seiner Seifenopernshow vielleicht so erzählt, ist für mich kein Maßstab in dem Zusammenhang.
Darüber hinaus gilt noch mal der obige Hinweis, dass es kurzfristischen arschlochhaften Egoismus gibt und ganz vernünftigen langfristigen Egoismus, der die Einsicht einschließt, das ich auch profitiere, wenn alle Menschen die Chance haben, zum Wohlstand der Gesellschaft beizutragen, und wenn wir ein System bauen, dass denen hilft, die Hilfe brauchen, weil ziemlich fest steht, dass ich auch irgendwann mal Hilfe brauchen werde, weil die jeder mal braucht.
Ein kleines bißchen machen das die Konsumenten ja sogar noch und erzeugen damit etwas Benefizdeko und Greenwashing, aber das halte ich nicht für ein tragendes Konzept, um soziale Probleme zu lösen.
Deswegen brauchen die Konsumenten mehr Bildung und eine funktionierende Epistemologie, um den Quatsch zu durchschauen, den man ihnen vorgaukelt.
Brauchen sie auch in einem demokratischen Sozialstaat, weil die Parteien ja leider nicht drüber stehen, ihren Wählern Benefiz und Green vorzugaukeln. Da kommen wir also sowieso nicht drumrum und können uns prima drauf einigen, nehme ich an.
Und wahrscheinlich habe ich letztendlich tatsächlich ein tiefsitzendes Problem mit Privateigentum.
Kann ich verstehen. Ist sehr problematisch.
Hier ist dann eigentlich vor allem mein Problem, daß ich im Ergebnis nicht sicher bin, ob der Staat, den ich verteidige, im Ergebnis trotz aller kleinerer Umverteilungsaktionen wie Steuerprogression und Pseudosozialstaat nicht eher eine Einheit ist, deren Hauptfunktion es eben ist, genau dieses Eigentum zu schützen.
Ich wäre versucht, hier mit Henry Higgins "Mein Gott, jetzt hat sie's!" zu schreiben, aber das käme nicht nur entsetzlich herablassend un gönnerhaft rüber, sondern wäre es auch tatsächlich, und unangemessen, und nicht mal sehr treffend, und ich will das nur nicht wahrhaben, weil ich My-Fair-Lady-Zitate aus unerfindlichen Gründen sehr mag, deswegen lasse ich es lieber.
Geht sowas wie "Willkommen im Club"?
Vielleicht immer noch zu doll. Stattdessen ganz trocken: Sowas meinte ich mit meiner Einstiegsbemerkung, dass ich "im großen Kontext des allmählichen Versagens der sozialen Sicherungssysteme des Staates und des entsprechenden Verlustes von Vertrauen in seine Leistungsfähigkeit" einige Einbußen für akzeptabel halte.
was hattest Du denn in Wirklichkeit gemeint? Das Geld ist da und Sozialstaat ist gut, nur die Art wie er organisiert ist is scheiße und muss weg?
Diese Fragen hatte ich keineswegs übersehen und wollte ich auch nicht übergehen. ich hoffe aber, dass ich sie mit meinen Erläuterungen zu deinen Detailfragen klären konnte. Sonst frag gerne weiter.
Muriel (Gast) - 5. Jan, 12:58

Uiui. Mir glaubt das jetzt eh keiner mehr, aber eigentlich weiß ich den Unterschied zwischen "das" und "dass".
Wirklich.

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Über mich

"Ma dove?" ist italienisch und heißt "Aber wo?".
Der "Name" ist eigentlich zufällig an mir hängenge-blieben, paßt aber bestechend:
Ich suche.
Den Sinn des Lebens, meinen Platz in der Welt, meinen eigenen Stil, und eigentlich ständig meinen Schlüsselbund. Bislang mit mäßigem Erfolg, aber unverdrossen.
Um herauszufinden, was ich denke, lese ich gerne hier nach. Dafür muß ich es aber erst schreiben.
Daher das blog.


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